Vordere Kreuzbandruptur
- Epidemiologie:
- Frauen haben 2-9 x häufiger eine Ruptur, Ursache:
- unklar
- vermehrtes Genu valgum?
- Hormone?
- unterschiedliche Bewegungsmuster (bei Frauen ist der Quadrizeps dominant gegenüber den Hamstrings (Ischiocrurale Muskulatur))
- Funktion des vorderen Kreuzbandes:
- bei 20-30 Grad Beugung maximale Stabilisierung nach vorn
- das vordere Kreuzband begrenzt die Unterschenkelinnenrotation
- Stabilisierung gegen Varus- & Valgusstress (Anteil ca.20%)
- verfügt über Mechanorezeptoren, denen Bedeutung für die Propriozeption nachgesagt wird
- Länge: 31-36 mm
- Anatomie:
- Ursprung: Innenfläche Condylus lateralis ossis femoris
- Ansatz:
- ca. 7mm vor dem hinteren Kreuzband
- in Höhe des Ansatzes des Meniskusvorderhorns
- im Zentrum des Tibiaplateaus im Bereich der medialen Tuberositas intercondylaris tibiae
- anteromediales & posterolaterales Faserbündel:
- anteromediales Bündel: „Führungsbündel“, da näher am Rotationszentrum des Kniegelenks über größeren Bewegungsumfang angespannt
- posterolaterales Bündel: „Sicherungsbündel“, Anspannung vor allem bei
endgradiger Streckung - in Beugung anteromediales Bündel angespannt, posterolaterales eher lax, in Streckung umgekehrt
- posterolateral Bündel wichtig für Rotationsstabilität
Klinik / Diagnose:
- Unfallmechanismus:
- Flexion-Valgus-Außenrotationstrauma: (Einfädeln beim Slalom): Innenband &
vordere Kreuzbandruptur (VKB) - Flexion-Varus-Innenrotationstrauma (Überkreuzen der Ski): Kapsel, Tractus iliotibialis & VKB
- Valgustrauma: VKB & Innenband
- Hyperflexionstrauma: Meniskushinterhorn & VKB
- „unhappy triad“: VKB, Innenband, Meniskus
- Begleitverletzung: im Rahmen des akuten Trauma oft lateraler Meniskusriss
- in weniger als 2 Stunden entsteht ein deutlicher Erguss
- rezidivierende schmerzhafte Kniegelenkssubluxationen
- Instabilitätsgefühl, „giving way“ bei abrupten Drehbewegungen (Pivoting)
- Untersuchungstechnik:
- akut:
- Lachmann-Test in 20 Grad Beugung (VKB)
- Druckschmerz anterolaterale Tibiakante (Tractus iliotibialis Ausriss)
- Test: Seitenbänder in Streckung und Beugung
- chronisch:
- Schubladentest:
- mit Unterschenkel in IRO: VKB und posterolatereale Kapselbandstrukturen
- mit Unterschenkel in ARO: VKB und mediale Kapselbandstrukturen
- Pivot Shift-Test:
- mit leichtem Zug nach distal wird das Knie in Streckung mit beiden Händen medial und lateral im Bereich der proximalen Tibia gefasst und mit dem medialen Arm am Körper stabilisiert
- nun wird mit der lateralen Hand ein Innenrotationsstress und mit der medialen Hand ein Valgusstress ausgelöst: führt zu anterolateraler Subluxation bei Kreuzbandruptur
- wird anschließend das Knie langsam über 30 Grad gebeugt, zieht mit zunehmender Beugung der Tractus iliotibialis die Tibia zurück und löst ein Zurückschnappen aus
- Hebel-Test nach Lelli: Patient in Rückenlage, Fersen aufliegend, Knie gestreckt. Die Faust des Untersuchers liegt unter der Wade. Moderate nach dorsal gerichtete Kraft auf den distalen Oberschenkel hebt über das intakte VKB die Ferse von der Liege. Positiver Test bei VKB-Ruptur: Ferse hebt sich nicht ab
- Schubladentest:
- KT 1000 oder KT 2000: Messung der vorderen Schublade in mm und Vergleich mit der Gegenseite, objektive Dokumentation der Instabilität, Möglichkeit zur Verlaufskontrolle (Operation)
- Röntgen: AP, seitlich, Rosenberg-Aufnahme im Stehen mit 30 Grad Beugung (Knorpelschaden)
- MRT:
- Sensitivität (90-98%) und Spezifität (95%)
- für korrekte Darstellung Anpassung der sagittalen Schnittebene an den Verlauf des Kreuzbandes: 3mm Schichten
- Beurteilung von Begleitverletzungen: Meniskus, Knorpel, Kapsel-Bandapparat
- Knochenödem (Tibia) als Hinweis auf Subluxation der Tibia nach vorn mit Anschlagen des Femurs im Bereich des posterioren Tibiaplateau
Therapie:
- entscheidend für die Indikation sind:
- Aktivitätsniveau des Patienten: primäre Indikation (Level 1-2), bei Versagen der konservativen Therapie (Level 2-4):
- Level 1: Springen, Drehbelastungen (Pivoting), plötzliches Abstoppen und Richtungswechsel (Squash, Fußball)
- Level 2: schwere körperliche Arbeit, Sport ohne Drehbelastung aber mit plötzlichem Abstoppen (Ski, Tennis)
- Level 3: leichte körperliche Arbeit, Sport ohne plötzliches Abstoppen (Joggen)
- Level 4: kein Sport
- Symptomatik: treten rezidivierende Subluxationen auf (Alltag, Beruf, Sport) ?
konservative Therapie:
- Indikation: Level 3 & 4 Belastung, oder nur eingeschränkte Belastung in Level 1 und 2,
wenn der Patient bereit ist, seine Aktivität gegebenenfalls einzuschränken
- Wiederherstellung der Beweglichkeit
- Muskelaufbau des Quadrizeps, der ischiokruralen Muskulatur und des Gastrocnemius in
der geschlossenen Kette
- Propriozeptionstraining
- Knieorthesen:
- führen zu einer geringen AP-Stabilisierung, sind jedoch nicht in der Lage, Belastungen beim Sport abzufangen
- können die reaktive muskuläre Stabilisierung verlangsamen
- ggf. elastischer Stützstrumpf zur Verbesserung der Propriozeption
- gleichzeitige Innenbandverletzung: zuerst die Innenbandverletzung konservativ behandeln, dann nach 6-8 Wochen ggf. vordere Kreuzbandplastik
operative Therapie:
- Indikation:
- individuelle Indikation vor allem bei Patienten mit Level 1 & 2 (Aktivitätsniveau)
- Leistungssportler: umgehende Operation, da hohes Risiko zusätzlicher Meniskusverletzung bei Belastung ohne vorderes Kreuzband
- Abwarten bis volle Streckung möglich ist, da dann postoperative Rehabilitation beschleunigt
- Normalbevölkerung: entscheidend für die Operationsindikation ist, ob die Kreuzbandruptur einen Einfluss auf die Aktivitäten des täglichen Lebens und die Berufsausübung hat; bei symptomatischer Instabilität sollte eine Kreuzbandplastik erwogen werden, um sekundäre Meniskusverletzung zu vermeiden
- Transplantatwahl:
- menschliches Kreuzband widersteht Belastungen von 2160 N
- Patellasehne:
- Belastungsfähigkeit: 1700-2900 N
- gold standard
- mittleres Sehnendrittel mit tibialem und patellarem Knochenblock
- Fixierung mit Interferenzschraube unter kräftigem Zug bei 30 Grad Beugung
- Semitendinosus doppelt (2300 N) oder Semitendinosus & Gracilis vierfach (4100 N)
- Fixierung mit Endo-Button, Flipptrack, Suture Plate
- Problem: die distale Fixierung ermöglicht eine Scheibenwischerbewegung des gelenknahen Sehnenanteils, die zu einer Aufweitung des Bohrkanals führt
- Lösung: resorbierbare gelenknahe Interferenzschrauben oder die Fixierung über Pins quer zum Bohrkanal (Rigid Fix)
- Quadrizepssehne: Belastbarkeit von 2300 N
- Allograft: Revisionseingriffe, in den USA auch zunehmend für die primäre VKB-Plastik beim „älteren“ Patienten (ab 35. Lebensjahr)
- Bohrkanal:
- anatomisch:
- „Anatometrie“ beschreibt den Versuch einer möglichst isometrischen Implantatpositionierung
- Lage des femoralen Bohrkanals hat besonderen Einfluss auf die Funktion: anteriore Position hemmt die Beugung und eine posteriore Position hemmt die Streckung
- Position des Tibiatunnels: direkt hinter dem Ansatz des Außenmeniskusvorderhorns 7mm vor dem hinteren Kreuzband
- Position des Femurtunnels: Notchplastik, dann Insertion 10:30 Uhr (rechts), bzw. 13:30 Uhr (links), 1mm der hinteren Wand belassen (Kontakt des VKB mit der Notchwand ist physiologisch, keine aggressive Notchplastik).
- Post-OP: Rehabilitationsprogramm nach Shelbourne und Nitz (modifiziert): für Patellasehnentransplantate:
- Bestandteile:
- Lymphdrainage, Kühlung, Hochlagerung, Patellamobilisation
- CPM
- Arbeit an voller Streckung: Unterpolsterung der Ferse, Knie frei hängend; keine Lagerung in Beugung!
- initial Knieorthese in Streckung (Klettschiene)
- Mobilisation an 2 Unterarmgehstützen: schmerzadaptierte Vollbelastung für 3 Wochen
- Tempo der Rehabilitation hängt von dem ausgewählten Graft (Patellasehne > Semitendinosus-Gracillis > Allograft), dem Alter des Patienten (jung > alt) und der gewählten Fixierungstechnik ab.
- Übungen: Heben, Adduzieren, Abduzieren des gestreckten Beins, Muskelstimulationsgerät bis zu 4 Stunden/Tag, Fußpumpe (aktive Dorsalextension und Plantarflexion)
- Entlassung aus Krankenhaus nach 2-4 Tagen
- Propriozeptionstraining
- isometrische Quadrizeps-Übungen
- ab 3. Woche Arbeit gegen Widerstand Beginn mit 0.5kg (Steigerung um 0.5kg pro Woche)
- 4.-7. Woche: Abtrainieren der Knieorthese, Schwimmtraining, Training in geschlossener Kette (Fuß auf Boden, Pedale oder Tritt und gesamte Extremität trägt die Last)
- 7.-12. Woche: Stair-Master, Schwimmen, isokinetisches Training (40-100 Grad)
- 12-15. Woche: Beginn des Laufprogramms
- ab 16. Woche: Drill-Training: low-Skipping mit Richtungswechseln, Körperstabilisierung durch häufige Richtungswechsel, sportartspezifisches Training
- Voraussetzung für Intensivierung des sportartspezifischen Trainings: Funktionstest >85% der Gegenseite
- Sportfähigkeit wird nach 6-12 Monaten erreicht
- Beurteilung des Ergebnisses: IKDC-Score, Lysholm Score, Winkelreproduktionstests
- Prophylaxe: hat im Leistungssport entscheidende Bedeutung: Henning-Programm,
Caraffa-Programm (Fußball), Hewett-Programm (Basketball, Volleyball)
Komplikation / Prognose:
- Meniskusnaht und VKB-Plastik: Ergebnis der Meniskusnaht bei gleichzeitiger VKB-Plastik besser (bessere Heilung aufgrund Hämarthros, Blutung aus Bohrkanälen?)
- Bewegungseinschränkung: Fehlpositionierung der Bohrkanäle, ggf. arthroskopisches Release der VKB-Plastik bei chronischer Bewegungseinschränkung
- Patellasehne versus Semitendinosus & Gracilis:
- haben die gleichen funktionellen Ergebnisse
- Wahl des Transplantates nach Vorliebe des Operateurs
- ein stabiles Kniegelenk wird bei 80-95% der Patienten erreicht
- 80% der Patienten erreichen das alte Aktivitätsniveau
- Initiales Ergebnis verschlechtert sich mit der Zeit
- Ergebnisse bei gleichzeitiger Meniskusverletzung oder Knorpelschaden schlechter
- posttraumatische Arthrose: unklar, ob Kreuzbandersatz Entstehung der Arthrose
verhindert
- wenn das Sehnentransplantat unsteril wird:
- Methode der Wahl: Auswahl eines anderen Transplantats
- wenn gesäubert in 3-fach Antibiotikalösung zirka in 30% positive Mibi-Kultur
- Patellasehne:
- bei <25mm Breite der Patellasehne ist die Entnahme nicht sinnvoll (Tendinitis, Patella baja)
- ungenügende Knochenblockgröße: der Block mit optimaler Größe wird in den Femurkanal eingezogen und tibial erfolgt eine Verstärkung mit Spongiosa und zusätzlicher Nahtfixierung (Endobutton, etc.)
- zu lange Sehne (>50mm): ggf. weiter in den femoralen Bohrkanal einführen, steilerer und längerer tibialer Bohrkanal, ggf. Zurückklappen des Knochenblocks und Refixierung an der Sehne unter Verkürzung,
- Patellasehne zu kurz: tibial ggf. 2 Interferenzschrauben, wenn bis zu 15mm Kontakt zum Bohrkanal erreicht werden, sonst Fixierung mit Nähten an einer tibialen Knochenbrücke oder Schraube
- Bruch des Knochenblocks: anderen Verankerungsmechanismus wählen (Endobutton, resorbierbare Interferenzschraube)
- Patellafraktur: Prophylaxe durch Spongiosaplastik des Knochendefekts mit Restspongiosa
- Patellasehnenruptur: meistens distal
- Verletzung des Hoffaschen Fettkörpers
- Quadrizepsschwäche
- vorderer Knieschmerz
- Schmerzen beim Knien
- Verkürzung des Lig. patellae
- Tunnelerweiterung
- Semitendinosus, Gracilis:
- unzureichende Transplantatlänge oder -breite
- Durchtrennung des Transplantats bei der Entnahme: Vermeidung durch umsichtiges Freipräparieren der Sehnen und Lösen von Verklebungen
- vorderer Knieschmerz
- Schmerz an der Entnahmestelle
- reduzierte Beuge- und Innenrotationskraft (in Studien nicht nachgewiesen)
- Quadrizepssehne: Quadrizepsschwäche, Schmerz (bisher wenig Daten)