Idiopathische Skoliose
- seitliche Verbiegung der Wirbelsäule von mehr als 10 Grad
- Mädchen : Jungen = 4 : 1
- Ätiologie: die Ätiologie der idiopathischen Skoliose ist ungeklärt; verschiedene Faktoren könnten eine Rolle spielen:
- früherer pubertärer Wachstumsschub
- genetische Faktoren
- Muskeldysbalance
- dysproportioniertes Wachstum der einzelnen Wirbelkörperabschnitte
- infantile Skoliose:
- bis 3. Lebensjahr
- 98% thorakal
- Differentialdiagnose: benigne Säuglingsskoliose (wenn der Rippenabgangswinkel nach Mehta ≥ 20 Grad auf der Konkavseite größer ist als auf der Konvexseite, dann spricht dies für eine infantile Skoliose)
- Prognose ist ungünstig, oft ist bereits früh eine Operation notwendig
- juvenile Skoliose:
- 4. – 10. Lebensjahr
- Prognose: ungünstig
- adoleszente Skoliose:
- ab 11. Lebensjahr
- in der Regel rechts konvex
- meist thorakal
- lumbale und thorakolumbale Skoliosen haben die Tendenz, aus dem Lot zu gehen
- relative Lordose (thorakale Kyphose von weniger als 20 Grad)
Klinik / Diagnose:
- Vorneigetest: Rippenbuckel oder Lendenwulst von 5 Grad oder mehr sind Hinweis auf eine Skoliose
- Seitneigung: Beurteilung der Rigidität der Krümmung
- Lot vom Vertebra prominens: Ist die Wirbelsäule durch die Skoliose aus dem Lot geraten?
- Menarche: Höhepunkt des pubertären Wachstumsschubs, für weitere 2 Jahre muss mit einem Wachstum und einer Progredienz der Deformität gerechnet werden
- Skelettalter:
- Beckenapophyse Stadieneinteilung nach Risser
- linke Hand nach Greulich und Pyle oder Bone-o-matic
- Reifung: Stadien nach Tanner
- Röntgen: Ganzwirbelsäule-AP und seitlich, Bending-Aufnahme ermöglicht Beurteilung der Rigidität der Krümmung:
- Bending: Neigung zur konvexen Seite (Korrektur der Krümmung)
- reverse Bending: Neigung zu konkaven Seite (verstärkt die Krümmung)
- Bestimmung des Ausmaßes der Krümmung mit Hilfe des Cobb-Winkels:
- Winkel zwischen den Linien an die Grund- bzw. Deckplatte der beiden am stärksten verkippten Wirbelkörper (Endwirbel) an den Enden der jeweiligen Krümmung
- alternativ kann bei schmalen Röntgenfilmstreifen der Cobb Winkel durch eine zu diesen Linien rechtwinkelige Hilfslinie bestimmt werden
- Rotationswinkel nach Nash und Moe: Bestimmung der Rotation des apikalen Wirbelkörpers
- Grad 1: ca. 5 Grad Rotation
- Grad 2: ca. 15 Grad Rotation
- Grad 3: ca. 30 Grad Rotation
- Grad 4: ca. 40 Grad Rotation
- Rotationswinkel nach Perdriolle über Rotationsmessschablone
- Risser-Stadium: Becken auf Ganzwirbelsäule-AP
- Risser-Stadium 1: zeitgleich mit der Menarche Höhepunkt des pubertären Wachstumsschubs
- Risser-Stadium 5: Skelettwachstum ist abgeschlossen
- Rasterstereografie: Möglichkeit zur Verlaufskontrolle ohne Röntgenstrahlen-exposition, Screeningverfahren
- MRT:
- nicht routinemäßig notwendig
- bei idiopathischen Skoliosen nur dann, wenn Erkrankungsbeginn vor dem 10. Lebensjahr oder linkskonvexe Thorakalskoliose
Therapie:
konservative Therapie: Korsett
- Indikation:
- Progredienz: Zunahme der Krümmung um mehr als 5 Grad nach Cobb in 6 Monaten
- thorakale Krümmung: 20-40 Grad nach Cobb (>40 Grad Überprüfung der Flexibilität)
- lumbale Krümmung: 20-40 Grad
- mindestens 1 Jahr verbleibendes Wachstum (Mädchen Skelettalter ≤13 Jahre, Jungen Skelettalter ≤ 15 Jahre oder Risser ≤ Stadium 3)
- Krümmungen mit geringer Flexibilität haben eine hohe Versagerrate.
- Modelle:
- (1) Cheneau-Korsett:
- thorakale und lumbale Krümmung (Korsett der Wahl)
- (2) Boston-Korsett: lumbale Krümmungen
- (3) Milwaukee-Korsett:
- hochthorakale Krümmungen: wird in Deutschland nicht mehr verwendet
- Chenau Konzept:
- da bei einer Skoliose neben der Seitneigung (Cobb Winkel) auch eine intervertebrale und intravertebrale Torsion vorliegt, ist eine komplexe 3-D Korrektur notwendig
- 3-Punkt-Prinzip: Pelotten für 3-D Korrektur
- im Gegensatz zum Boston Korsett werden die Pelotten nicht in ein symmetrisches Korsett, sondern direkt beim Anfertigen des Kunststoffkorsetts in den Abdruck eingearbeitet
- Pelotten werden ventral und dorsal so gepaart, dass eine Derotation erreicht wird, Korrektur erfolgt in Höhe des Apex
- es werden Freiräume gelassen, die eine Bewegung und das Atmen in eine Überkorrektur gestatten (im Bereich der Konkavität)
- Atemtechnik: der Patient atmet sich aus der Krümmung in Lücken des Kunststoffkorsetts hinein und fördert so eine 3-dimensionale Korrektur
- ein Korsett sollte nach der anfänglichen Eingewöhnungsphase (5 Tage) mindestens 23 Stunden am Tag getragen werden, Abnahme nur zur Krankengymnastik und Eigengymnastik
- Effekt ist dosisabhängig, je intensiver das Korsett getragen wird, desto besser das Ergebnis- es besteht eine Korrelation zwischen dem Ausmaß der initialen Korrektur im Korsett und dem zu erwartenden Endergebnis
- Verlaufskontrolle nach 4 Wochen und dann alle 3 Monate (alle 3 Monate Rastersterometrie und alle 6 Monate Röntgen)
- Problem: psychische Belastung durch das Korsett in der Pubertät (Compliance)
- Versager: Progredienz der Krümmung oder der Wirbelkörperrotation unter der Therapie
konservative Therapie: Krankengymnastik:
- nach Schroth: durch intensive stationäre Krankengymnastik lässt sich eine kurzfristige Verbesserung der Skoliose erreichen, jedoch Progredienz nach Beendigung der Therapie
- verbessert kardiopulmonale Fitness
- kräftigt die Muskulatur
operative Therapie:
- Indikation:
- Krümmungen über 40-50 Grad nach Cobb im Wachstumsalter
- Krümmungen über 50 Grad nach Wachstumsabschluss, wenn: Progredienz oder Schmerzen
- prä-OP: Lungenfunktion, je 10 Grad nach Cobb Verlust der Vitalkapazität um 10%
- Reduktion der Instrumentationsstrecke verringert die Belastung der Anschlusssegmente
- Technik:
- ventrale Derotationsspondylodese:
- Indikation für dorsale oder ventrale Fusion auf individueller Basis
- seit Einführung primär stabiler ventraler Doppelstabsysteme entfällt die postoperative Korsettbehandlung nach ventralen Eingriffen
- exzellente Möglichkeiten der Derotation
- kürzere Instrumentationsstrecke, bei thorakolumbalen Krümmungen wird eine Instrumentation bis in die untere LWS vermieden
- isolierte rigide thorakale Krümmung mit deutlicher Rotation der Wirbelkörper lässt sich sehr gut über einen ventralen Zugang versorgen
- Voraussetzung: ausreichende Größe der Wirbelkörper, um ein Doppelstabsystem zu verankern
- Einstabsysteme bedürfen in der Regel postoperativ einer Korsett- oder Rissercast Immobilisierung
- nach Eröffnung des Thorax immer Thoraxdrainage
- dorsale Spondylodese:
- langstreckige Krümmungen und doppelbogige Krümmungen, bei denen auch die zweite Krümmung instrumentiert werden muss
- heute Pedikelschrauben bis in die obere BWS, alternativ hochthorakale Haken
- ggf. mit einer Rippenbuckelresektion (Osteotomie der Rippen medial des Apex des Buckels und Resektion eines Rippensegments von 1-2cm, anschließend fixieren der Rippenenden mit Etibond Fäden, Thoraxdrainage)
- dorso-ventrale Fusion:
- schwere Deformität >90 Grad nach Cobb
- rigide, neuromuskuläre Skoliose
- bei jungen Patienten wird heute eine dorsale Stabilisierung und ventrale Epiphysiodese kombiniert, um ein Crankshaft-Phänomen zu vermeiden
- Instrumentationsstrecke:
- sehr kontrovers
- stabile Zone: Wirbelkörper, die innerhalb einer vertikalen Verlängerung der LWK5 Facettengelenke liegen
- Historisch:
- Harrington: Instrumentation einen Wirbel ober- und 2 Wirbelkörper unterhalb des Endwirbels, wenn dieser in der stabilen Zone liegt
- Moe: empfahl die Instrumentation bis zum Neutralwirbel (Wirbelkörper ohne Rotation mit symmetrischen Pedikeln)
- Cochran: eine Spondylodese unter Einschluss von L5 hat deutlich höheres Risiko postoperativer Rückenschmerzen im follow-up, gilt eingeschränkt auch für L4
- Aktuell: Instrumentation von End- zu Endwirbel, wobei der unterste instrumentierte Wirbel auf der reverse Bending Aufnahme in der stabilen Zone liegen sollte
- nach King-Klassifikation (heute wird die Lenke Klassifikation verwendet):
- King 1:
- s-förmige thorakolumbale Krümmung
- lumbale > thorakale Krümmung
- Therapie: dorsale Stabilisierung beider Krümmungen
- King 2:
- s-förmig
- lumbale < thorakale Krümmung
- Therapie: dorsale Stabilisierung
- Ventrale Derotationsspondylodese möglich, wenn die lumbale Krümmung sich in der Bending Aufnahme auf <25 Grad aufrichtet
- King 3:
- thorakale Krümmung
- lumbale Wirbelkörper kreuzen die Mittellinie nicht
- Therapie: flexible Krümmung: thorakale dorsale Stabilisierung
- rigide Krümmung: ventrale Derotationsspondylodese (VDS)
- King 4:
- langstreckige thorakale Krümmung
- Therapie: dorsale Instrumentationsspondylodese
- King 5:
- doppelte thorakale Krümmung
- Therapie schwierig
- bei Schulterhochstand oder rigider oberer Krümmung muss diese in der Regel auch instrumentiert werden
- King 1:
Lenke Klassifikation:
(1) 6 Kurventypen
- Festlegung der Lokalisation sind die Krümmungsscheitel folgendermaßen festgelegt:
- Hochthorakale Lokalisation: Krümmungsscheitel zwischen Th 2 und Th 6
- Thorakale Lokalisation: Krümmungsscheitel zwischen Th 6 und der Bandscheibe Th 11/12
- Thorakolumbale Lokalisation: Krümmungsscheitel zwischen Th 12 und L1
- Lumbale Lokalisation: Krümmungsscheitel zwischen der Bandscheibe L1/2 und L4
- Festlegung der Flexibilität der Kurve: Die Flexibilität wird entweder über die Restkrümmung in der Bedingaufnahme oder die Stärke der Kyphose beurteilt. Eine Krümmung wird strukturell festgesetzt, wenn der Bending-Cobb Winkel über 25 Grad oder der
- Kyphosewinkel über 20 Grad liegt.
- Typ I (main thoracic, Hauptkrümmung strukturell und ausschließlich thorakal)
- Typ II (double thoracic, 2 thorakale Krümmungen): die thorakale Hauptkrümmung und die hochthorakale Nebenkrümmung sind strukturell
- Typ III (double major, 2 Hauptkrümmungen): die thorakale, thorakolumbale oder lumbale Krümmung ist strukturell, die thorakale Krümmung ist größer als die thorakolumbale oder lumbale Krümmung
- Typ IV (tripel major, 3 Hauptkrümmungen): alle drei Krümmungen sind strukturell, die thorakale Krümmung ist die Hauptkrümmung
- Typ VI (primary thoracolumbar/lumbar, Hauptkrümmung ausschließlich thorakolumbal oder lumbal): die Hauptkrümmung liegt im Übergangsbereich Brust- zu Lendenwirbelsäule oder im Lendenwirbelbereich und ist strukturell, die hochthorakale oder thorakale Nebenkrümmung ist nicht strukturell
- Typ VI (primary thoracolumbar/lumbar-main thoracic): die thorakolumbale oder lumbale Hauptkrümmung ist strukturell, die thorakale Nebenkrümmung ist auch strukturell, aber hat einen mindestens 5 Grad kleineren Cobb-Winkel
(2) Festlegung des „Lumbar spine modifier": dieser Parameter erfasst die Veränderungen im lumbalen Anteil der Skoliose. Man unterscheidet die Modifier Typen A, B und C
(3) Festlegung des "Sagittal thoracic modifier": im sagittalen Profil (seitliche Röntgenaufnahme) wird das Ausmaß der bestehenden Kyphose (Rundrückenbildung) bestimmt. Folgende Kyphosewinkel nach Cobb werden unterschieden: Indices „-", „N" oder „+"
- Kyphose zwischen Th 5 und Th 12 kleiner als 10 Grad nach Cobb: „-"
- Kyphose zwischen Th 5 und Th 12 zwischen 10 Grad und 40 Grad nach Cobb: „N"
- Kyphose zwischen Th 5 und Th 12 größer als 40 Grad nach Cobb: „+"
Prognose / Komplikation:
- Progredienz der Krümmung: Risiko erhöht
- ausgeprägte Krümmung
- thorakale und doppelbogige Skoliose
- geringe Korrektur im Korsett (<20 Grad Korrektur)
- Rippen-Wirbelkörper-Winkel-Differenz nach Mehta: bei der infantilen Skoliose ist eine Differenz >20 Grad ein Hinweis auf einen progredienten Verlauf
- post-OP Komplikationen:
- neurologisches Risiko:
- <100 Grad Cobb-Winkel ca. 0.6%
- ≥100 Grad Cobb Winkel ca. 10%
- intraoperativer Aufwachtest oder evozierte sensomotorische Potentiale bei Risikopatienten
- „Crankshaft Phänomen“:
- Operation im Wachstumsalter
- kommt es nach einer dorsalen Fusion ohne Verödung der vorderen Wirbelkörperepiphysen zu einem weiteren ventralen Wachstum, resultiert eine Lordosierung
- aus diesem Grund wird bei geringem Skelettalter eine dorsale Fusion mit einer ventralen Epiphysiodese kombiniert oder eine dorsoventrale Fusion favorisiert
- Infektionsrate gering
- Pleuraerguss: bei transthorakalen Eingriffen immer Thoraxdrainage