Beinlängendifferenz
- Ätiologie:
- angeboren:
- Hüftluxation
- Femurhypoplasie
- Fibulaaplasie
- Tibiaaplasie
- Hemihypertrophie
- erworben:
- schlaffe Lähmung > spastische Lähmung, verringern das Knochenwachstum (Poliomyelitis, Spina bifida)
- Hämangiom: vermehrtes Wachstum (Klippel-Trenaunay-Syndrom)
- Wilms-Tumor: vermehrter Knochenwuchs auf Tumorseite (bei Kindern mit unklarer Beinlängendifferenz immer Abdomen Ultraschall)
- Trauma: Verletzung der Wachstumsfuge
- Fraktur: vermehrtes Wachstum
- scheinbare Beinlängendifferenz bei Beckenverdrehung oder Hüftadduktionskontraktur
- Verschluß der Wachstumsfugen nach Trauma
- Neurofibromatose
- Osteomyelitis
Einteilung:
- statisch
- progredient
Klinik / Diagnose:
- Armlängendifferenz: Gebetsstellung: Handflächen aneinander, Ellenbogen gebeugt und auf der Tischplatte
- Haut: Hämangiomata, Spina bifida
- Umfang von Armen und Beinen: Hypertrophie
- Bauch: Raumforderung im Nierenlager (Wilms Tumor?)
- neurologische Ursache: Sensibilität, Lähmungen, Muskelatrophie
- Gangbild:
- kurzes Bein: in der Standphase wird der Körperschwerpunkt nach unten verlagert und durch die vertikale Verschiebung des Körperschwerpunkts der Energieverbrauch erhöht
- langes Bein: Schwungphase erschwert, entweder der Fuß schleift über den Boden oder Kniebeugung
- 2-3cm können durch Beugen des längeren Beins und Zehengang auf der kürzeren Seite kaschiert werden
- klinische Beurteilung der Beinlänge:
- im Stand: Vergleich der Höhe der Crista iliaca, der Spina iliaca anterior superior und posterior superior
- Brettchen unter das kürzere Bein legen bis Beinlängenausgleich, ggf. mit Beckenkammwaage objektivieren
- mit geradem Becken auf der Untersuchungsliege:
- Distanz Spina iliaca anterior superior bis Malleolus medialis,
- Distanz Bauchnabel bis Malleolus medialis
- Galeazzi Zeichen: in Rückenlage bei gebeugtem, aufgestelltem Knie steht das längere Bein über
- Beinachsenstandaufnahme mit Ausgleich der klinisch ermittelten Beinlängendifferenz (Brettchen), um gleichzeitige Deformitäten beurteilen zu können:
- Kniescheibe nach vorn
- Beugestellung im Knie oder Beugekontraktur schränkt Verwertbarkeit ein
- Vergleich der Höhe des Hüftkopfzentrums nach Beinlängenausgleich durch Brettchen ermöglicht von der Röntgenprojektion unabhängige Bestimmung der Beinlängendifferenz
- Beinlängendifferenz in Femur und oder Tibia lokalisiert?
- Skelettalter: Röntgen der linken Hand AP
- das Knochenalter oder Skelettalter zeigt die Reife des Knochens im Verhältnis zum chronologischen Alter an
- Skelettalter (nicht das chronologische Alter) ist entscheidend für das zu erwartende Restwachstum
- Bestimmung des Skelettalters nach Greulich und Pyle:
- Genauigkeit ± 1 Jahr
- genau so ungenau wie das chronologische Alter
- nur bei starken Abweichungen ist eine Aussage möglich
- Bestimmung nach Tanner und Whitehouse
- moderne Bestimmung mit Software auf der Grundlage der Tanner und Whitehouse Daten (Bone-O-Matic der Firma Medi O Soft)
Therapie:
Therapie vor Wachstumsabschluss:
- 1. Vorstellung:
- ausführliche klinische Untersuchung und Ausschluss behandlungsbedürftiger Grunderkrankung
- exakte Bestimmung der Beinlängendifferenz: klinisch & Beinachsenstandaufnahme mit Ausgleich der klinischen Beinlängendifferenz
- Skelettalter
- Termin für Abdomen Ultraschall im Kindesalter vereinbaren (Wilms Tumor)
- neuer Termin zur Verlaufskontrolle in 6 Monaten
- Ausnahme: Patient mit signifikanter Beinlängendifferenz und nahezu abgeschlossenem Skelettwachstum (umgehende Epiphysiodese ?)
Alterkorrigierter Multiplier | |||
Alter in Jahren | Tibia und Femur Jungen | Tibia und Femur Mädchen | |
3 | 2.2 | 2.0 | |
4 | 2.0 | 1.8 | |
7 | 1.6 | 1.4 | |
10 | 1.3 | 1.2 | |
12 | 1.2 | 1.1 | |
14 | 1.1 | 1.0 | |
16 | 1.0 | 1.0 |
Tab. 4-2: Multiplier (entnommen aus Paley D. et al. Multiplier Method for Predicting Limb-Length Discrepancy. J Bone Joint Surg 2000; 82-A: 1432-1445)
- 2. Vorstellung:
- klinische Untersuchung
- exakte Bestimmung der Beinlängendifferenz: klinisch & Beinachsenstandaufnahme mit Ausgleich der klinischen Beinlängendifferenz
- Skelettalter
- Bestimmen der bei Wachstumsabschluss zu erwartenden Beinlängendifferenz:
- Multiplier Methode nach Dr. Paley (J Bone Joint Surg Am. 2000; 82-A: 1432-46); exakteste Technik, die Beinlängendifferenz zum Wachstumsabschluss vorherzusagen; je mehr Messungen und je dichter am Wachstumsabschluss, um so genauer die Vorhersage:
- Beinlänge zu Wachstumsabschluss = Multiplier x Länge des langen Beins zum Untersuchungszeitpunkt
- Beinlängendifferenz zum Wachstumsabschluss = Multiplier x Beinlängendifferenz zum Untersuchungszeitpunkt
- einfachere Berechnung:
- 2 x Zunahme der Beinlängendifferenz in den letzten 6 Monaten entspricht jährlicher Zunahme der Beinlängendifferenz
- die zu erwartende Beinlängendifferenz wird berechnet aus: aktueller Beinlängendifferenz + (jährlich Zunahme x Jahre bis zum Wachstumsabschluss)
- Multiplier Methode nach Dr. Paley (J Bone Joint Surg Am. 2000; 82-A: 1432-46); exakteste Technik, die Beinlängendifferenz zum Wachstumsabschluss vorherzusagen; je mehr Messungen und je dichter am Wachstumsabschluss, um so genauer die Vorhersage:
- Epiphysiodese: Beinlängendifferenz bis zu 5cm:
- Beinlängendifferenz in Femur oder Tibia:
- es wird der Knochen im Wachstum angehalten, der zu lang ist
- Ziel: Kniegelenkslinien in gleicher Höhe (Toleranz: ±2cm)
- Berechnen der zu erwartenden Körperendgröße:
- bei relativ ausgeprägter Beinlängendifferenz (>3cm) und geringer Körpergröße kann unter Umständen zugunsten einer Verlängerung auf die Epiphysiodese verzichtet werden
- scharfe Aufklärung über Risiken der Verlängerung
- Endgröße entspricht ungefähr der doppelten Körpergröße zum Ende des 2. Lebensjahres (grobes Maß)
- moderner Bestimmung mit Software (Bone-O-Matic der Firma Medi O Soft)
- temporäre Epiphysiodese:
- Blount Klammer, Richards-Klammern
- sollte nicht vor dem 10. (Mädchen) bzw. 12. Lebensjahr (Jungen) durchgeführt werden, um eine Schädigung der Wachstumsfuge mit Entstehung neuer Deformitäten zu vermeiden
- permanente Epiphysiodese nach Canale:
- Aufbohren der Epiphyse unter Bildverstärker
- Methode der Wahl
- wichtig: genaue Bestimmung des Restwachstums
- post-OP: Entlastung für 3 Wochen an 2 Unterarmgehstützen
- Berechnung des verbleibenden Restlängenwachstums der Epiphyse:
- Australische Methode:
- Wachstum in der Wachstumsfuge des distalen Femur: 1.0cm/Jahr
- Wachstum in der Wachstumsfuge der proximalen Tibia: 0.6cm/Jahr
- Australische Methode:
- Multiplier Technik: die von Paley beschriebene Multiplier Technik lässt sich auch zur Berechnung des Restwachstums der Epiphyse heranziehen
- Anderson Normwerte: siehe Tabelle
- Wachstumsalter: Beinlängendifferenz ≤1cm: keine Therapie
Therapie nach Wachstumsabschluss:
- Beinlängendifferenz ≤1.5 - 2cm: keine Therapie
- Beinlängendifferenz 2–3cm:
- 2 cm Absatzerhöhung und 1cm Vorfußerhöhung (leichter Spitzfuß)
- ggf. Verkürzungsosteotomie
- Beinlängendifferenz >3cm:
- konservativ, nur mit erheblichem Aufwand zu korrigieren
- Sohlenerhöhung (Kosmetik)
- ab >4cm Orthesenversorgung zur Fußstabilisierung notwendig
Skelettalter | Mädchen | Jungen |
verbleibendes Wachstum Femur | ganz (distaler Femur) in cm | |
10 Jahre | 6.91 (4.61) | 10.94 (7.29) |
11 Jahre | 4.82 (3.21) | 9.07 (6.04) |
12 Jahre | 2.89 (1.93) | 7.11 (4.74) |
13 Jahre | 1.32 (0.88) | 5.06 (3.37) |
14 Jahre | 0.49 (0.33) | 3.05 (2.03) |
15 Jahre | 0.16 (0.11) | 1.54 (1.02) |
Skelettalter | Mädchen | Jungen |
verbleibendes Wachstum der | Tibia (proximale Tibia) | |
9 Jahre | 7.09 (4.25) | 10.30 (6.18) |
10 Jahre | 5.37 (3.22) | 8.76 (5.26) |
11 Jahre | 3.65 (2.19) | 7.19 (4.31) |
12 Jahre | 2.04 (1.22) | 5.54 (3.32) |
13 Jahre | 0.82 (0.13) | 3.80 (2.28) |
14 Jahre | 0.22 (0.13) | 2.11 (1.26) |
15 Jahre | 0.06 (0.04) | 0.91 (0.55) |
Tab. 4-3: Werte entnommen aus Anderson M., et al. Distribution of length of the normal femur and tibia
in children from 1 to 18 years of age. J Bone Joint Surg 1964; 46-A: 1197-1202. Die Berechnung
des Wachstums des distalen Femurs erfolgt unter der Annahme, dass 2/3 des Knochenwachstums
des Femurs in der distalen Wachstumsfuge stattfindet. Die Berechnung des Wachstums
in der proximalen Tibia erfolgt unter der Annahme, dass 3/5 des Wachstums der Tibia in der
proximalen Wachstumsfuge stattfindet.
- Beinlängendifferenz bis 5cm:
- Verkürzungsosteotomie:
- Oberschenkel bis 4 cm (maximal 10% der Femurlänge), z-förmige intertrochantäre Umstellungsosteotomie + Winkelplattenosteosynthese
- Unterschenkel bis 3cm
- Problem: Operation des gesunden Beines
- Körpergröße berücksichtigen
- Problem: postoperative Quadrizepsschwäche (reversibel)
- Beinverlängerung: strenge Indikationsstellung, ggf. bei geringer Körpergröße
- Beinlängendifferenz ≥5cm:
- Beinverlängerung bis zu 8cm pro Verlängerung ggf. mehrmalige Verlängerung
- Techniken:
- Fixateur extern:
- Ilisarov Ringfixateur
- Orthofix: unilateraler Fixateur
- Taylor-Spatial-Frame: Hexapod zur 3-dimensionalen Korrektur
- Osteotomie bevorzugt in der Metaphyse, ggf. bifokal (an 2 Stellen im gleichen Knochen)
- nach Osteotomie keine Distraktion bis Kallusbildung beginnt
- Fixateur extern:
- ca. 10 Tage
- Richtwert ist das Lebensalter zum Zeitpunkt der Osteotomie (in Tagen)
- im Anschluss erfolgt Verlängerung 1mm/Tag
- wenn schlechte Kallusbildung kann die Geschwindigkeit zeitweise reduziert werden: 0.5mm/Tag bis 0.25mm/Tag
- nach Verlängerung Fixateur belassen bis neue Kortikalis sichtbar (ggf. winkelgerechte Dynamisierung)
- Therapiedauer: Kind: 1 Monat/1cm, Erwachsene: 2-3 Monate/1cm Verlängerung
- Komplikationen:
- Jeder Patient mit einer fixateurassistierten Verlängerung hat mindestens eine Komplikation
- Pin-Infekt: Reinigung, Antibiose
- tiefer Infekt (Weichteilabszess, Osteomyelitis): Antibiotika, ggf. Umsetzen des Pins oder Pin-Entfernung
- Bewegungseinschränkung und Kontrakturen: Krankengymnastik, Kontrakturprophylaxe (Spitzfuß!)
- Gelenkluxation (Kniegelenk): ggf. gelenkübergreifende Instrumentation
- Fehlstellung: bei jeder Vorstellung Ausmessen der Deformität
- Nervenverletzung: bei geringer Distraktionsgeschwindigkeit unwahrscheinlich
- Frakturen: nach Abbau des Fixateurs
- Schmerzen
- Verlängerung mit Fixateur über Marknagel (LON):
- Femurmarknagel: komplikationsarme elegante Methode
- Tibia: hohe Komplikationsrate (schlechte Regeneratbildung, Spitzfuß), maximal 4 cm Verlängerung
- erhebliche Kosten
Komplikation / Prognose:
- Rückenschmerzen
- Hüftgelenksarthrose: durch die Adduktion des längeren Beins kommt es zu einer schlechteren Überdachung, ein Umstand, der als Ursache für eine frühzeitige Arthrose angeführt wird (kontrovers)
- Skoliose: ausgeprägtere Beinlängendifferenz mit Beckenschiefstand führt zu kompensatorischer Lumbalskoliose
- bei Poliomyelitis:
- Verlängerung kann Gehfähigkeit gefährden
- nicht mehr als 5cm verlängern