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Notizbuch

Beinlängendifferenz

- Ätiologie:

  • angeboren:
    • Hüftluxation
    • Femurhypoplasie
    • Fibulaaplasie
    • Tibiaaplasie
    • Hemihypertrophie
  • erworben:
    • schlaffe Lähmung > spastische Lähmung, verringern das Knochenwachstum (Poliomyelitis, Spina bifida)
    • Hämangiom: vermehrtes Wachstum (Klippel-Trenaunay-Syndrom)
    • Wilms-Tumor: vermehrter Knochenwuchs auf Tumorseite (bei Kindern mit unklarer Beinlängendifferenz immer Abdomen Ultraschall)
    • Trauma: Verletzung der Wachstumsfuge
    • Fraktur: vermehrtes Wachstum
    • scheinbare Beinlängendifferenz bei Beckenverdrehung oder Hüftadduktionskontraktur
    • Verschluß der Wachstumsfugen nach Trauma
    • Neurofibromatose
    • Osteomyelitis

Einteilung:

- statisch
- progredient

Klinik / Diagnose:

- Armlängendifferenz: Gebetsstellung: Handflächen aneinander, Ellenbogen gebeugt und auf der Tischplatte
- Haut: Hämangiomata, Spina bifida
- Umfang von Armen und Beinen: Hypertrophie
- Bauch: Raumforderung im Nierenlager (Wilms Tumor?)
- neurologische Ursache: Sensibilität, Lähmungen, Muskelatrophie
- Gangbild:

  • kurzes Bein: in der Standphase wird der Körperschwerpunkt nach unten verlagert und durch die vertikale Verschiebung des Körperschwerpunkts der Energieverbrauch erhöht
  • langes Bein: Schwungphase erschwert, entweder der Fuß schleift über den Boden oder Kniebeugung

 

Abb. 4-36: Beinlängendifferenz von 2.7 cm, mit und ohne Beinlängenausgleich mit Brettchen (A-B), Beinlängenmessaufnahme (C-D)
Abb. 4-36: Beinlängendifferenz von 2.7 cm, mit und ohne Beinlängenausgleich mit Brettchen (A-B), Beinlängenmessaufnahme (C-D)
Orthoforum

 

- 2-3cm können durch Beugen des längeren Beins und Zehengang auf der kürzeren Seite kaschiert werden
- klinische Beurteilung der Beinlänge:

  • im Stand: Vergleich der Höhe der Crista iliaca, der Spina iliaca anterior superior und posterior superior
  • Brettchen unter das kürzere Bein legen bis Beinlängenausgleich, ggf. mit Beckenkammwaage objektivieren
  • mit geradem Becken auf der Untersuchungsliege:
    • Distanz Spina iliaca anterior superior bis Malleolus medialis,
    • Distanz Bauchnabel bis Malleolus medialis
    • Galeazzi Zeichen: in Rückenlage bei gebeugtem, aufgestelltem Knie steht das längere Bein über

- Beinachsenstandaufnahme mit Ausgleich der klinisch ermittelten Beinlängendifferenz (Brettchen), um gleichzeitige Deformitäten beurteilen zu können:

  • Kniescheibe nach vorn
  • Beugestellung im Knie oder Beugekontraktur schränkt Verwertbarkeit ein
  • Vergleich der Höhe des Hüftkopfzentrums nach Beinlängenausgleich durch Brettchen ermöglicht von der Röntgenprojektion unabhängige Bestimmung der Beinlängendifferenz
  • Beinlängendifferenz in Femur und oder Tibia lokalisiert?

- Skelettalter: Röntgen der linken Hand AP

  • das Knochenalter oder Skelettalter zeigt die Reife des Knochens im Verhältnis zum chronologischen Alter an
    • Skelettalter (nicht das chronologische Alter) ist entscheidend für das zu erwartende Restwachstum
  • Bestimmung des Skelettalters nach Greulich und Pyle:
    • Genauigkeit ± 1 Jahr
    • genau so ungenau wie das chronologische Alter
    • nur bei starken Abweichungen ist eine Aussage möglich
  • Bestimmung nach Tanner und Whitehouse
  • moderne Bestimmung mit Software auf der Grundlage der Tanner und Whitehouse Daten (Bone-O-Matic der Firma Medi O Soft)

Therapie:

Therapie vor Wachstumsabschluss:
- 1. Vorstellung:

  • ausführliche klinische Untersuchung und Ausschluss behandlungsbedürftiger Grunderkrankung
  • exakte Bestimmung der Beinlängendifferenz: klinisch & Beinachsenstandaufnahme mit Ausgleich der klinischen Beinlängendifferenz
  • Skelettalter
  • Termin für Abdomen Ultraschall im Kindesalter vereinbaren (Wilms Tumor)
  • neuer Termin zur Verlaufskontrolle in 6 Monaten
  • Ausnahme: Patient mit signifikanter Beinlängendifferenz und nahezu abgeschlossenem Skelettwachstum (umgehende Epiphysiodese ?)

 

    Alterkorrigierter Multiplier  
Alter in Jahren Tibia und Femur Jungen   Tibia und Femur Mädchen
3 2.2   2.0
4 2.0   1.8
7 1.6   1.4
10 1.3   1.2
12 1.2   1.1
14 1.1   1.0
16 1.0   1.0

Tab. 4-2: Multiplier (entnommen aus Paley D. et al. Multiplier Method for Predicting Limb-Length Discrepancy. J Bone Joint Surg 2000; 82-A: 1432-1445)

 

- 2. Vorstellung:

  • klinische Untersuchung
  • exakte Bestimmung der Beinlängendifferenz: klinisch & Beinachsenstandaufnahme mit Ausgleich der klinischen Beinlängendifferenz
  • Skelettalter
  • Bestimmen der bei Wachstumsabschluss zu erwartenden Beinlängendifferenz:
    • Multiplier Methode nach Dr. Paley (J Bone Joint Surg Am. 2000; 82-A: 1432-46); exakteste Technik, die Beinlängendifferenz zum Wachstumsabschluss vorherzusagen; je mehr Messungen und je dichter am Wachstumsabschluss, um so genauer die Vorhersage:
      • Beinlänge zu Wachstumsabschluss = Multiplier x Länge des langen Beins zum Untersuchungszeitpunkt
      • Beinlängendifferenz zum Wachstumsabschluss = Multiplier x Beinlängendifferenz zum Untersuchungszeitpunkt
    • einfachere Berechnung:
      • 2 x Zunahme der Beinlängendifferenz in den letzten 6 Monaten entspricht jährlicher Zunahme der Beinlängendifferenz
      • die zu erwartende Beinlängendifferenz wird berechnet aus: aktueller Beinlängendifferenz + (jährlich Zunahme x Jahre bis zum Wachstumsabschluss)

- Epiphysiodese: Beinlängendifferenz bis zu 5cm:

  • Beinlängendifferenz in Femur oder Tibia:
    • es wird der Knochen im Wachstum angehalten, der zu lang ist
    • Ziel: Kniegelenkslinien in gleicher Höhe (Toleranz: ±2cm)
  • Berechnen der zu erwartenden Körperendgröße:
    • bei relativ ausgeprägter Beinlängendifferenz (>3cm) und geringer Körpergröße kann unter Umständen zugunsten einer Verlängerung auf die Epiphysiodese verzichtet werden
    • scharfe Aufklärung über Risiken der Verlängerung
    • Endgröße entspricht ungefähr der doppelten Körpergröße zum Ende des 2. Lebensjahres (grobes Maß)
    • moderner Bestimmung mit Software (Bone-O-Matic der Firma Medi O Soft)
  • temporäre Epiphysiodese:
    • Blount Klammer, Richards-Klammern
    • sollte nicht vor dem 10. (Mädchen) bzw. 12. Lebensjahr (Jungen) durchgeführt werden, um eine Schädigung der Wachstumsfuge mit Entstehung neuer Deformitäten zu vermeiden
  • permanente Epiphysiodese nach Canale:
    • Aufbohren der Epiphyse unter Bildverstärker
    • Methode der Wahl
    • wichtig: genaue Bestimmung des Restwachstums
  • post-OP: Entlastung für 3 Wochen an 2 Unterarmgehstützen
  • Berechnung des verbleibenden Restlängenwachstums der Epiphyse:
    • Australische Methode:
      • Wachstum in der Wachstumsfuge des distalen Femur: 1.0cm/Jahr
      • Wachstum in der Wachstumsfuge der proximalen Tibia: 0.6cm/Jahr
  • Multiplier Technik: die von Paley beschriebene Multiplier Technik lässt sich auch zur Berechnung des Restwachstums der Epiphyse heranziehen
  • Anderson Normwerte: siehe Tabelle

- Wachstumsalter: Beinlängendifferenz ≤1cm: keine Therapie

Therapie nach Wachstumsabschluss:
- Beinlängendifferenz ≤1.5 - 2cm: keine Therapie
- Beinlängendifferenz 2–3cm:

  • 2 cm Absatzerhöhung und 1cm Vorfußerhöhung (leichter Spitzfuß)
  • ggf. Verkürzungsosteotomie

- Beinlängendifferenz >3cm:

  • konservativ, nur mit erheblichem Aufwand zu korrigieren
  • Sohlenerhöhung (Kosmetik)
  • ab >4cm Orthesenversorgung zur Fußstabilisierung notwendig

 

Skelettalter Mädchen Jungen
  verbleibendes Wachstum Femur  ganz (distaler Femur) in cm
10 Jahre 6.91 (4.61) 10.94 (7.29)
11 Jahre 4.82 (3.21) 9.07 (6.04)
12 Jahre 2.89 (1.93) 7.11 (4.74)
13 Jahre 1.32 (0.88) 5.06 (3.37)
14 Jahre 0.49 (0.33) 3.05 (2.03)
15 Jahre 0.16 (0.11) 1.54 (1.02)

 

Skelettalter Mädchen Jungen
  verbleibendes Wachstum der Tibia (proximale Tibia)
9 Jahre 7.09 (4.25) 10.30 (6.18)
10 Jahre 5.37 (3.22) 8.76 (5.26)
11 Jahre 3.65 (2.19) 7.19 (4.31)
12 Jahre 2.04 (1.22) 5.54 (3.32)
13 Jahre 0.82 (0.13) 3.80 (2.28)
14 Jahre 0.22 (0.13) 2.11 (1.26)
15 Jahre 0.06 (0.04)  0.91 (0.55)

Tab. 4-3: Werte entnommen aus Anderson M., et al. Distribution of length of the normal femur and tibia
in children from 1 to 18 years of age. J Bone Joint Surg 1964; 46-A: 1197-1202. Die Berechnung
des Wachstums des distalen Femurs erfolgt unter der Annahme, dass 2/3 des Knochenwachstums
des Femurs in der distalen Wachstumsfuge stattfindet. Die Berechnung des Wachstums
in der proximalen Tibia erfolgt unter der Annahme, dass 3/5 des Wachstums der Tibia in der
proximalen Wachstumsfuge stattfindet.

 

- Beinlängendifferenz bis 5cm:

  • Verkürzungsosteotomie:
    • Oberschenkel bis 4 cm (maximal 10% der Femurlänge), z-förmige intertrochantäre Umstellungsosteotomie + Winkelplattenosteosynthese
    • Unterschenkel bis 3cm
    • Problem: Operation des gesunden Beines
    • Körpergröße berücksichtigen
    • Problem: postoperative Quadrizepsschwäche (reversibel)
  • Beinverlängerung: strenge Indikationsstellung, ggf. bei geringer Körpergröße

- Beinlängendifferenz ≥5cm:

  • Beinverlängerung bis zu 8cm pro Verlängerung ggf. mehrmalige Verlängerung
  • Techniken:
    • Fixateur extern:
      • Ilisarov Ringfixateur
      • Orthofix: unilateraler Fixateur
      • Taylor-Spatial-Frame: Hexapod zur 3-dimensionalen Korrektur
      • Osteotomie bevorzugt in der Metaphyse, ggf. bifokal (an 2 Stellen im gleichen Knochen)
      • nach Osteotomie keine Distraktion bis Kallusbildung beginnt

- ca. 10 Tage
- Richtwert ist das Lebensalter zum Zeitpunkt der Osteotomie (in Tagen)

  • im Anschluss erfolgt Verlängerung 1mm/Tag
  • wenn schlechte Kallusbildung kann die Geschwindigkeit zeitweise reduziert werden: 0.5mm/Tag bis 0.25mm/Tag
  • nach Verlängerung Fixateur belassen bis neue Kortikalis sichtbar (ggf. winkelgerechte Dynamisierung)
  • Therapiedauer: Kind: 1 Monat/1cm, Erwachsene: 2-3 Monate/1cm Verlängerung
  • Komplikationen:

- Jeder Patient mit einer fixateurassistierten Verlängerung hat mindestens eine Komplikation
- Pin-Infekt: Reinigung, Antibiose
- tiefer Infekt (Weichteilabszess, Osteomyelitis): Antibiotika, ggf. Umsetzen des Pins oder Pin-Entfernung

- Bewegungseinschränkung und Kontrakturen: Krankengymnastik, Kontrakturprophylaxe (Spitzfuß!)
- Gelenkluxation (Kniegelenk): ggf. gelenkübergreifende Instrumentation
- Fehlstellung: bei jeder Vorstellung Ausmessen der Deformität
- Nervenverletzung: bei geringer Distraktionsgeschwindigkeit unwahrscheinlich
- Frakturen: nach Abbau des Fixateurs
- Schmerzen

 

Abb. 4-37: Beinverlängerung mit einem Tibiaverlängerungsnagel (A-B). Die Tibiaverlängerung kann zu einem Spitzfuß führen (C)
Abb. 4-37: Beinverlängerung mit einem Tibiaverlängerungsnagel (A-B). Die Tibiaverlängerung kann zu einem Spitzfuß führen (C)
Orthoforum

 

  • Verlängerung mit Fixateur über Marknagel (LON):
    • Femurmarknagel: komplikationsarme elegante Methode
    • Tibia: hohe Komplikationsrate (schlechte Regeneratbildung, Spitzfuß), maximal 4 cm Verlängerung
    • erhebliche Kosten

Komplikation / Prognose:

- Rückenschmerzen
- Hüftgelenksarthrose: durch die Adduktion des längeren Beins kommt es zu einer schlechteren Überdachung, ein Umstand, der als Ursache für eine frühzeitige Arthrose angeführt wird (kontrovers)
- Skoliose: ausgeprägtere Beinlängendifferenz mit Beckenschiefstand führt zu kompensatorischer Lumbalskoliose
- bei Poliomyelitis:

  • Verlängerung kann Gehfähigkeit gefährden
  • nicht mehr als 5cm verlängern
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