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Notizbuch

Der lumbale Bandscheibenvorfall

- asymptomatischer Bandscheibenprolaps: 20-35% der arbeitenden Bevölkerung- asymptomatische Bandscheibenprotrusion: 56% der Bevölkerung vor dem 60. Lebensjahr- in Deutschland ist die Bandscheibenoperation mit mehr als 20 000 Eingriffen die häufigste Wirbelsäulenoperation
- Pathogenese: der normale Alterungsprozess führt zu

  • Dehydration der Bandscheibe
  • Verlust der Proteoglykane in der Bandscheibe
  • Degeneration und Auffaserung des Anulus fibrosus
  • Bandscheibenprotrusion und Bandscheibenprolaps
  • lokale Kompression der Spinalnerven im Wirbelkanal oder dem lateralen Recessus
  • Freisetzung von Zytokinen führt zu einer
    • direkten Stimulation der Spinalnerven und Nervenendigungen im Anulus fibrosus
    • Sensibilisierung von Schmerzrezeptoren
    • Verstärkung des Proteoglykanverlustes durch Förderung der Proteoglykandegeneration und
    • Unterhalt einer Entzündungsreaktion

- natürlicher Verlauf: in der Regel kommt es zur Resorption des Bandscheibenvorfalls, die meisten Bandscheibenvorfälle sprechen gut auf eine konservative Therapie an

- große, sequestrierte Bandscheibenvorfälle zeigen die stärkste Tendenz zur Rückbildung
- die Rückbildung wird durch Kontakt zu epiduralen Gefäßen begünstigt
- Altersgipfel: 30.-50. Lebensjahr

 

Abb. 5-2: Mediolateraler Bandscheibenvorfall im Segment LWK 3/4 (A-C). Abbildung B und C zeigen die Kompression der Nervenwurzel LWK3 im Foramen (Eigentum des Instituts für Klinische Radiologie der Universität Münster)
Abb. 5-2: Mediolateraler Bandscheibenvorfall im Segment LWK 3/4 (A-C). Abbildung B und C zeigen die Kompression der Nervenwurzel LWK3 im Foramen (Eigentum des Instituts für Klinische Radiologie der Universität Münster)
Orthoforum

 

- Lokalisation: Beschreibung der Lage des Bandscheibenvorfalls

  • Im Bandscheibenfach: medial, paramedian, lateral
  • oberhalb, in Höhe der Bandscheibe, unterhalb der Bandscheibe
  • Dislokation nach cranial oder kaudal
  • Bedeutung: die Nervenwurzel L5 kann durch einen paramedianen Bandscheibenvorfall L4/5 oder einen lateralen Bandscheibenvorfall L5/S1 betroffen sein, auch eine Dislokation nach cranial kann bei einem Vorfall L5/S1 die L5 Wurzel komprimieren

- es gibt keine Korrelation zwischen der Größe des Bandscheibenvorfalls und der Schmerzsymptomatik

Einteilung:

nach Ausmaß der Dislokation des Bandscheibengewebes
- Protrusion: Bandscheibenvorwölbung innerhalb des Anulus (Anulus fibrosus bleibt erhalten)
- Prolaps: Bandscheibenvorfall mit Perforation des Anulus fibrosus

  • subligamentär: gedeckt vom hinteren Längsband
  • extraligamentär: mit Perforation des hinteren Längsbandes

- freier Sequester: Bandscheibenvorfall mit Perforation des Anulus fibrosus und des Längsbandes, der Bandscheibenvorfall hat keinen Kontakt zur Bandscheibe mehr

 

Abb. 5-3: Lasegue- (A) und Bragard-Zeichen (B)
Abb. 5-3: Lasegue- (A) und Bragard-Zeichen (B)
Orthoforum

Klinik / Diagnose:

- typische Entlastungshaltung
- in das Bein ausstrahlende Kreuzschmerzen: Lumboischialgie
- Lasègue-Zeichen: Anheben des gestreckten Beines führt bei weniger als 60 Grad Hüftbeugung zu Schmerzen, die in das Bein ausstrahlen (L4-S1 Wurzel)- umgekehrter Lasègue: in Bauchlage führt das Beugen des Kniegelenks oder Anheben des gestreckten Beines zu Schmerzen, die in den Oberschenkel ausstrahlen (L3-L4 Wurzel)
- Bragard-Zeichen: bei einem positiven Lasègue wird das Bein 5-10 Grad zurückgeführt bis die Beschwerden nachlassen, anschließend werden die Schmerzen durch Dorsalextension im oberen Sprunggelenk erneut ausgelöst
- Valleix-Druckpunkte: Druckschmerz im Verlauf des Nervus ischiadicus entlang des dorsalen Oberschenkels

 

Nervenmuskel Muskel Reflex Dermatom
L 3

M. quadrizeps

M. iliopsoas

PSR vom Oberschenkel zum medialen Kniegelenk
L 4 M. quadrizeps PSR lateraler Oberschenkel und medialer Unterschenkel
L 5

M. ext. hallucis

longus

M. ext. digitorum

brevis

TPR lateraler Unterschenkel und Fußrücken
S 1

M. peroneus

M. triceps surae

ASR dorsaler Unterschenkel und Fußsohle

Tab. 5-2: Zuordnung von Nervenwurzel und klinischer Symptomatik (PSR: Patellarsehnenreflex, ASR:
Achillessehnenreflex, TPR: Tibialis posterior Reflex)

 

- Beurteilung des Sphinktertonus und der anogenitalen Sensibilität
- Röntgenbildgebung: stellt Bandscheibenvorfall nicht dar
- MRT: aufgrund der fehlenden Strahlenexposition und der koronaren und sagittalen Rekonstruktionsmöglichkeiten dem CT überlegen

Therapie:

konservative Therapie:
- anhaltende schwere Kreuzschmerzen ohne radikuläre Symptomatik und Beeinträchtigung der Motorik und Sensibilität werden immer zunächst konservativ therapiert
- Schmerztherapie: Schmerzmedikamente Stufe 1 & 2 nach WHO-Schema
- Muskelrelaxantien (Musaril)
- Stufenbettlagerung, jedoch keine strikte Bettruhe
- Wärmeanwendungen: Fango, ABC-Pflaster
- Massagen, ggf. Unterwassermassagen zur Lockerung der Muskulatur
- epiperidurale Infiltrationen, tiefe paravertebrale Umflutungen und Wurzelblockaden mit einem Lokalanästhetikum in Kombination mit einem Steroid
- Krankengymnastik:

  • 1. Woche: Entspannungsübungen z. Bsp. autogenes Training, progressive Muskelrelaxation
  • 2.-3. Woche: Muskeltonusregulierung durch Detonisierung und Ausgleich von Dysbalancen
  • >3. Woche: Trainingstherapie zur Kräftigung der Rückenmuskulatur

Operation:
- absolute Operationsindikation:

  • Kaudasyndrom (Harn- oder Stuhlinkontinenz)
  • Lähmung funktionell wichtiger Muskel (Kniestrecker, Fußheber, Fußsenker)
  • progrediente Lähmungen

- relative Operationsindikation:

  • isolierte Lähmung funktionell weniger bedeutsamer Muskeln (Großzehenheber)
  • persistierende Schmerzen mit radikulärem Charakter trotz adäquater konservativer Therapie über einen Zeitraum von 6 Wochen
  • Rezidiv radikulärer Beschwerden mit neurologischem Defizit
  • Bandscheibenvorfall bei bereits bestehender Spinalkanalstenose

- bei einer relativen Operationsindikation kann es sinnvoll sein, präoperativ eine psychosomatische Abklärung durchzuführen
- eine Operation sollte nur dann erfolgen, wenn die Lage des Bandscheibenvorfalls in der Schichtbildgebung zu der geschilderten Beschwerdesymptomatik passt

Technik:
- offene Diskektomie: “gold standard“

  • Technik:
    • Bauchlage
    • Darstellung und Inzision des Lig. flavum
    • Resektion des Lig. flavum und je nach Lage des Prolaps craniale oder kaudale Laminotomie
    • Darstellung des Prolaps und Entfernung des Bandscheibenvorfalls, ggf. Ausräumung lockerer intradiskaler Bandscheibenfragmente
  • Ergebnisse:
    • gut und sehr gut: 75-80%, mäßig: 15%, schlecht: 10%
    • Reoperationsrate ca. 5-10%

- perkutane lumbale Diskektomie:

  • Technik:
    • Saugdiskektomie
    • perkutane Laserdiskektomie
    • perkutane endoskopische Diskektomie
  • Vorteil: kürzerer Krankenhausaufenthalt, weniger Vernarbungen
  • Nachteil: L5/S1 sind nur schwer zu erreichen, verlagerte Sequester sind schlechter darstellbar

- Chemonukleolyse:

  • Indikation: subligamentärer Prolaps
  • Technik:
    • nach Injektion in den Bandscheibenraum spaltet Chymopapain die Proteoglykanmoleküle
    • Wirkung hält für wenige Stunden an
    • es kommt zu einer Verringerung des inneren Drucks in der Bandscheibe und einer Reposition des Vorfalls
    • Ergebnisse: wird heute in Deutschland nicht mehr verwendet
    • 1-2% allergische Reaktionen (Chymopapain wurde vom deutschen Markt genommen)

 

Abb. 5-4: Postdiskotomiesyndrom L5-S1 bei Zustand nach offener Nukleotomie L5/S1 (A,B). Es erfolgte die Therapie mit einem TLIF L5-S1
Abb. 5-4: Postdiskotomiesyndrom L5-S1 bei Zustand nach offener Nukleotomie L5/S1 (A,B). Es erfolgte die Therapie mit einem TLIF L5-S1
Orthoforum

Prognose / Komplikation:

- Postdiskektomiesyndrom: postoperative Instabilität und Narbenbildung
- aktuelle Literatur: Operation lindert zwar schneller die Beschwerden, langfristige Ergebnisse (10 Jahre) sind jedoch vergleichbar mit konservativer Therapie: entscheidend ist die Patientenselektion
- in der Literatur gibt es keinen Beleg dafür, dass die minimal invasiven Bandscheibenoperationen den offenen Verfahren überlegen sind; die kürzeren Rehabilitationszeiten sollten nicht zu einer Überstrapazierung der Operationsindikation führen

Komplikationen der Operation:

  • Verletzung der Dura (Liquorleak)
  • Nervenverletzung
  • epidurales Hämatom
  • Spondylodiszitis
  • Instabilität des operierten Bandscheibensegments

- Rezidiv: innerhalb der ersten 3-12 Monate ist oft das selbe Segment, nach mehreren Jahren in der Regel ein anderes Segment betroffen (wird wie neuer Bandscheibenvorfall behandelt)

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